Der Wolf im Winter

Eine Kurzgeschichte

 Blitzende Lichter von fahrenden Autos. Hupen. Das Geräusch der Motoren. In der Ferne sehen sie wie Ameisen aus. Dennoch sind sie kaum zu überhören. Ich sehe Kirchen. Eine. Zwei. Drei. Mehr als fünf Kirchtürme!

Der Wind weht meine Haare ins Gesicht. Kälte kriecht in meine Jacke. Hier oben ist es wirklich kalt. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Immer mehr Lichter in Fenstern gehen an. Ein paar gehen aus. Hier, umgeben von Stein und Wald, stehe ich. Vor mir, zu meinen Füßen, eine meiner Lieblingsstädte.

Ich spüre die Kälte. Meine Finger schmerzen bereits. Trotzdem rühre ich mich nicht.

Ab und zu fliegt eine Krähe in meiner Nähe vorbei. Ihr Schrei geht in dem Geräusch der Autos fast unter, obwohl sie weit von mir entfernt sind.

Das Geräusch der Hupen und das Krähen der Vögel versetzt mich in die Vergangenheit zurück. An einen Tag, an den ich mich nicht mehr erinnern wollte:

Es war ein winterlicher Dienstag. Die letzten Nächte über hatte es gefroren. Tagsüber regnete oder schneite es. Selten schien die Sonne, doch an diesem Tag hatten wir Glück mit dem Wetter. Mein Vater beschloss deswegen einen Ausflug mit meinem Bruder und mir zu machen. Wir wollten in den Zoo, der erst vor kurzer Zeit ein Eisbärengehege eröffnet hatte, passend zur Jahreszeit.

Ich wollte nicht alleine mit meinem nervigen Bruder Julius fahren, der mit seinen neun Jahren allmählich ziemlich nervig und kompliziert wurde. Deswegen durfte ich meine beste Freundin Vanessa mitnehmen; Platz genug im Auto hatten wir ja.

Der Weg war weit. Julius spielte NintendoDS, während ich mit Vani über die Gerüchte in der Schule redete.

„Hast du eigentlich schon mitbekommen dass Herr Schiller angeblich Frau Weiß um ein Date gebeten haben soll?“, fragte meine beste Freundin.

„Was? Der Alte soll die Weiß...? Hat sie ja gesagt?“ antwortete ich und blickte sie erwartungsvoll an.

„Natürlich hat sie nein gesagt, du Dummchen! Oder glaubst du ernsthaft dass die Weiß mit dem Schiller ausgehen will?“ gab Vani in ihrem Trasch-Ton zurück. Ich lachte, wie immer, wenn Vani diesen Ton anschlug. Sie war eine der wenigen, die mich zum Lachen brachte, seid Mama tot war...

 

Der Tag im Zoo war toll. Die Eisbären waren im Wasser und durch eine Scheibe konnten wir sie beobachten. Papa hatte für uns alle einen Kakao ausgegeben, den wir im Zoo gegenüber vom Wolfsgehege im Restaurant genüsslich schlürften. Vani und ich sahen dabei den kleinen Wolfswelpen beim spielen zu. Es war echt niedlich wie die Kleinen durch die Gegend tapsten!

Julius quängelte wie immer um irgendwelche sinnlosen Dinge und klopfte mich und Papa immer wieder weich, weswegen er am Ende mit einem Plüschaffen und einer Tüte Gummibärchen wieder im Auto saß und strahlte.

Den Rückweg traten wir erst am späten Abend an, da wir noch einen Schauer abwarten mussten. Da es begonnen hatte zu frieren, musste Papa besonders vorsichtig fahren. Doch Vani, Julius und ich machten uns da wenig Gedanken. Mein kleiner Bruder spielte wieder Nintendo, während Vani und ich auf der Rückbank zusammenrückten um Musik zu hören. Uns schrie Vanis Lieblingsmetalband in die Ohren, als mein Vater auf einmal von der Straße abkam. Wir schrien. Ich stieß mir den Kopf. Dann wurde alles Schwarz.

Nun stand ich hier. Ich blicke über die Stadt. Allmählich wird es dort stiller. Immer mehr Lichter in der Stadt gehen aus. Jemand nimmt meine rechte Hand.

„Komm mit, Amy, ich will nicht mehr, dass du alleine bist.“ Ich sehe zur Seite und erblickte Vani.

„Amelie, es macht mich traurig, wenn du so schaust.“ Papa ergreift meine Linke.

Zur gleichen Zeit lassen sie mich los. Ihr bittenden Stimmen gehen mir voraus. Ich blicke ein letztes Mal über die Stadt. Dann folge ich ihnen.

 

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