Zeitverleih

Eine Kurzgeschichte

 

 

Da stand er. Nahezu gequetscht durch die nebenstehenden Häuser bewahrte sich der kleine Laden seinen Platz in der schmalen Gasse dieser großen Stadt. Lange war ich schon umher gewandert, als ich am späten Abend zu ihm gelangte. "Zeitverleih" las ich auf dem neu aussehenden, goldenen Schild über der Tür. Licht fiel durch die großen Schaufenster, die mit allerlei Gegenständen geschmückt waren: Lange Ketten hingen wie Silberregen ins Ladenfenster hinab, uralte Bücher, im Ledereinband gebunden, stapelten sich hinter der Scheibe und auf dem kleinen Turm, den sie bildeten, thronte der größte und reinste Kristall, den ich je gesehen hatte. Durch das Licht in der Auslage schimmerte er geheimnisvoll. Im Fenster der alten Eingangstür hing ein silberfarbiges, metallisches "Geöffnet"-Schild, also trat ich ein.

 

Im Laden war es sehr still, aber zur gleichen Zeit auch laut. Es kam mir vor, als wäre ich taub. Ich schritt voran, doch ich hatte das Gefühl, ich käme vor Langsamkeit nicht vorwärts. Ich sprach ein leises und lautes "Hallo" zur selben Zeit, jedoch konnte ich meine Worte fast schon durch die Luft gehen sehen. Das hier war der Ort, an dem die Zeit keine Rolle mehr spielte; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander trafen. Hier, wo es voll und leer war, alles langsam und schnell zugleich verging; wo Leben und Tod keinen Unterschied machten und Materielles und Geistiges sichtbar und unsichtbar zur gleichen Zeit waren. Ich hörte Menschen, verstand sie jedoch nicht. Es war nichts und doch so viel mehr. Es war überwältigend und doch ernüchternd, es war unbeschreiblich. Es war wie eine übermenschliche Macht, die alles in diesem Raum einnahm.
Ich... Ich sah mich. Ich sah mich, als ich klein war, ich sah mich, als ich jetzt war und... Ich sah mich, als ich alt war.
War es das, was ich hier ersuchte? War es das, was ich begehrte, einen Blick auf alles, was mein Leben für mich bereit hielt? Ich blickte mir in die Augen, und ich sah eine ganze Welt. Nein, ich sah ein ganzes Universum. Es war so viel und doch so wenig, so riesig und doch so klein, ich sah Sterne, Galaxien, fremde Welten, andere Planeten und doch schien es nur ein Staubkorn in einem Haufen weiterer Staubkörner zu sein. Und ich sah Menschen, viele weitere Menschen in den uralten Kinderaugen meiner selbst. Ich sah Menschen, denen ich begegnet war, Menschen, die ich um mich hatte und Menschen, die ich eines Tages sehen würde. Ich sah Menschen, die ich hasste, die ich mochte und jene, die ich liebte. Mein Ich aus allen Zeiten verblasste und die Kraft dieses Ortes wurde mir wieder bewusst gemacht. Ich wollte vergessen und ich konnte es nicht. Ich wollte Menschen vergessen, getane Dinge vergessen, ich wollte einen Neuanfang. Doch ich konnte nicht – das sagte mir dieser Ort - ich durfte nicht vergessen. Alle Erinnerungen und all die Zeit, die ich gelebt hatte, machten mich aus. Ich durfte nicht vergessen was war, denn ich würde vergessen wer ich war. Und wer ich gewesen war und wer ich sein würde.
Ich hörte wieder Stimmen, unverständlich, aber klarer, als die Male davor. Es war ein seltsames und befremdliches Gefühl. Gefühle. Das war es, was ich nun spürte. Es waren viele. Und sie kamen auf einmal. Sie überrannten mich, versuchten mich zu ertränken. Es war ein Albtraum. Es war wirr. Alles war wirr. Alles, was ich bisher erlebt hatte, war wirr. Ich fühlte mich gut und schlecht, voll Liebe und voll Hass, glücklich und unglücklich – richtig und falsch. Es war ein Kampf; wie Gut gegen Böse. Mal überwog das Eine, mal das Andere. Mal hoben sie sich gegenseitig auf, manchmal schmerzte mich ihr Gegensatz. Es tat weh.
Der Schmerz wurde schlimmer. Es war, als würde mir die Zeit nach und nach langsam und qualvoll jeden einzelnen Knochen brechen. Es fing mit den kleinen Knochen an... meine Finger schmerzten, dann wanderte der Schmerz zu meinen Armen bis zu meinen Schultern. Danach begann dasselbe mit meinem Unterkörper; von meinen Füßen zu meinen Beinen, von den Knien bis zum Becken. Dann breitete sich der Schmerz langsam über meinen Körper aus. Ich spürte wie der Schmerz von Rippe zu Rippe zunahm, bis ich letzten Endes – ich riss die Augen auf und schrie als sich mein Herz anfühlte als würde es platzen. Ich schrie, doch ich hörte mich selbst nicht. Der Schmerz ließ nach, es brannte. Feuer schien meinen Körper in Brand gesetzt zu haben, doch in meinem Inneren breitete sich Ruhe aus. Ich fühlte Frieden. War das ein Neuanfang? War es das, was ich wollte? Ich fühlte mich ruhig, entspannt und friedlich. Es war still. Ich konnte mich nicht rühren, alles, was ich sah, war weiß. Strahlendes weiß. Ich blinzelte, es war hell. Als würde ich in eine weiße und reine Sonne blicken. War ich fort? War ich nicht mehr auf der Erde? Wo war ich? Auf einem anderen Planeten? Einem Planeten, dessen Sonne bereits lange tot war?
Ich lag da, den Blick nicht von dem weißen Licht lassen könnend. Ich war vollkommen davon gebannt, bemerkte das Gefühl, nicht allein zu sein, erst nicht. Doch was war das? In dem strahlenden und reinen Weiß erblickte ich eine andere Farbe. Was war es? Ich versuchte genauer hinzusehen, aber es begann zu flimmern. Es war, als würde es in verschiedenen Farben flimmern. Es war wie ein Edelstein, ein Diamant, der von der Sonne beleuchtet wurde und alle möglichen Farben des Regenbogens zurück werfen. Doch ich konnte es nicht einordnen. Ich konnte auch nicht anders, als den Blick weiterhin auf dem flimmernden Stein zu halten.

 

Ich blinzelte. Ich schaute wieder auf den Kristall in der Auslage.

930 Wörter